Die Tannentaler Tanten und die Sache mit dem Hölzlehenker
Kapitel 1
Das Dritte, was Adalbert Waldvogel auffiel, war, dass er keine fünf Minuten mehr leben würde.
Als Erstes, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte, erkannte er, dass er auf dem Förderband der alten Berta lag. Das war die antike Bandsägemaschine seines Großvaters, die noch mit Diesel betrieben wurde, und seit Jahren vergessen in einer Staub- und Sägemehl bedeckten Ecke des Holzlagers stand.
Die zweite Erkenntnis folgte, nachdem er das Vibrieren unter ihm und den ohrenbetäubenden Lärm um ihn herum realisiert hatte. Das bedeutete, dass die alte Berta tatsächlich lief und ihn das Förderband langsam mit dem Kopf voraus zu dem senkrecht auf- und abjagenden Sägeblatt trug, mit dem früher die Baumstämme entzweigesägt worden waren.
Adalbert hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Deshalb benötigte sein Gehirn ein paar Sekunden, bis er die drei Erkenntnisse richtig eingeordnet hatte und er erkannte, dass er von diesem Band so schnell wie möglich heruntermusste. Aber er schaffte es nicht einmal, den Kopf nach hinten zu drehen, um abzuschätzen, wie weit der noch von dem Sägeblatt entfernt war. Feuerwerke explodierten in seinem Schädel, als er seinen Körper nach links und rechts drehte, um sich von dem alten Gummiband herunterzuwälzen. Aber er war zu schwach, um genug Schwung zu bekommen. Ein durchdringender Geruch von Alkohol stieg ihm in die Nase.
Hatte er getrunken?
Der Gedanke erschreckte ihn fast noch mehr als alles andere, was ja weiß Gott erschreckend genug war. Er hatte seit über einem halben Jahr keinen Schnaps mehr angerührt. Etwas, worauf er ungemein stolz war.
Also warum stank er jetzt nach Alkohol, hatte Watte im Schädel und lag an einer Stelle, von der er sich nicht erinnern konnte, wie er da hingekommen war? Es war alles genauso wie in der dunklen Zeit, die ihn fast alles gekostet hatte, was ihm wichtig gewesen war. Er hatte damals aber, mehr durch Glück als durch Umsicht, nie jemanden gefährdet, außer sich selbst.
Das war jetzt anders.
Adalbert wusste, dass das Laufband der alten Berta fünf Meter lang war und es sich sehr langsam bewegte. Das laute Klopfen und das Husten des Motors verursachten ihm weiter schlimme Kopfschmerzen. Der Dieselgestank hinderte sein Gehirn daran, in die Gänge zu kommen. Wie lange hatte er diese Dämpfe schon eingeatmet?
Er drehte den Kopf nach links und rechts, um sich zu orientieren. In dieser hintersten Ecke der riesigen Holzscheune war er lange nicht mehr gewesen. Alte, dunkelgefärbte Balken standen hier bis zur schwarzen Holzdecke aufeinandergestapelt. Es brauchte Jahre, bis sie richtig getrocknet waren und verarbeitet werden konnten. Die hier hatten den richtigen Trockengrad erreicht und könnten für hochwertige Möbel oder für Musikinstrumente verwendet werden.
Guter Umsatz, den er gebrauchen konnte.
Das Sägewerk kam langsam wieder in die Gewinnzone, nachdem er es jahrelang vernachlässigt hatte und lieber in der Krone das Geld versoff, dass seine Vorfahren mit der Firma angespart hatten.
Verdammt, warum dachte er jetzt an so was? Er sollte lieber machen, dass er von diesem Band herunterkam.
Die alte Berta machte weiter ihren ohrenbetäubenden Krach. Das Förderband bewegte ihn unaufhaltsam vorwärts. Schwarzer Qualm drang aus dem dicken Rohr, das rechts von dem öligen Ungetüm aufragte. Wer hatte es aufgetankt und wer hatte das uralte Ding überhaupt zum Laufen gebracht?
Adalbert schrie um Hilfe, aber seine Stimme konnte den Lärm der Säge nicht durchdringen. Sie war belegt und er versuchte es wegzuräuspern.
Warum war er so schwach? Und warum funktionierte sein Gehirn nicht?
Er wusste, dass er alles daran setzen musste, um von hier wegzukommen. Aber er war so fürchterlich schlapp. Als hätte man ihm jede Energie aus dem Körper gesaugt. Als hätte sein Leib enttäuscht aufgegeben, nachdem ihm wieder dieses Teufelszeug zugeführt worden war. Adalbert hatte sich geschworen, keinen Schnaps mehr anzurühren. Nie mehr wieder.
Sein Vorsatz hatte nicht lange gehalten. Aber woher war das Zeug gekommen? In seinem Haus gab es seit Monaten keinen Tropfen Alkohol mehr.
Je näher er dem Sägeblatt kam, desto klarer wurde ihm, was in dem Augenblick passieren würde, wenn sein Kopf die Metallzähne berührte.
Und jetzt endlich durchflutete Panik seinen Körper.
Das Adrenalin schwemmte durch seine Blutbahnen. Sein Gehirn nahm seine Arbeit auf und er erkannte, dass sein ganzer Körper mit Folie eingewickelt war. Vom Hals bis zu den Füßen. Er lag wie in einem Kokon auf dem Sägeband und würde es niemals ohne Hilfe schaffen, hier herunterzukommen. Dann funktionierten seine Stimmbänder wieder und sein Brüllen war durch das gesamte Holzlager zu hören.
Aber auf dem alten Sägewerk außerhalb von Bad Killingen lebte seit Monaten niemand mehr außer dem Besitzer.
Selbst als seine Rufe zu panischem Kreischen anschwollen und sie das ekelhafte Geräusch von sägendem Metall auf Knochen überlagerten, verklangen sie ungehört in der dunklen Herbstnacht.
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