Frieslandkripo - Das Ende im Watt

Kapitel 1

»Zisch ab! Das ist ein Maite-Spezial.«
Andi wedelte die Möwe weg, die ein zu großes Interesse an ihrem zweiten Frühstück zeigte. Sie saß auf einer Bank am Norderoder Hafen. Es war kurz nach halb neun und natürlich war allerhand los. An diesen Stegen legten die Fischkutter an, um ihre duftende Ladung zu löschen. Die Anlegestellen für die Boote von vermögenden Menschen oder Urlaubern, die mal so etwas mieten wollten, lagen weiter weg von Andis Sitzplatz. Der Teil des Hafens dort war das Aushängeschild der Stadt, die zusehends zu einem Touristenjuwel mutierte. Mit allen Vor- und Nachteilen. 
Wegen eines solchen Nachteils saß sie an einem Samstagmorgen hier.
»Möwe?«, fragte Sören in ihrem linken Ohr.
»Eine ganz Gierige.« Andi trug himmelblaue Dreiviertelhosen, ein Ringel-T-Shirt und Espadrilles an den nackten Füßen. Sie hatte den roten Pferdeschwanz durch den Verschluss ihres Käppis gezogen, und eine Sonnenbrille mit weißem Plastikgestell saß auf der Nase. Auf deren Rücken hatte sie Sonnencreme verteilt, aber nicht einmassiert. Jonte, ihr Chef, meinte immer, dass man bei einer Observation so auffällig wie möglich aussehen sollte. Nur so vermied man zuverlässig, als Polizist erkannt zu werden.
Und der Mann hatte recht. Andi sah aus, als hätte ein Regenbogenpony auf sie gekotzt. Sie ging damit locker als Touristin durch, die das Treiben der Krabbenfischer beobachtete.
»Wie siehts bei euch aus?«, fragte sie Sören.
Polizeibeamte auf der ganzen Welt priesen die Entwicklungen der Telekommunikation und vor allem die Erfindung der Headsets. Noch vor wenigen Jahren hätte man jeden schräg angesehen, der ins Leere vor sich hinplapperte, und deshalb hatte man das so unauffällig wie möglich machen müssen. Heute war es normal, wenn jemand sich mit der Luft unterhielt. Dabei musste man die Technik gar nicht mal mehr im Revers oder Ärmelaufschlag verstecken. iPhone und AirPods erledigten die Aufgaben, für die früher kompliziert am Körper angebrachte Mikrofone und Ohrstecker verwendet wurden.
Schöne neue Welt.
»Jede Menge Touristen«, sagte Sören. »Aber keine Drogendealer mit schwarzem Schnurrbart und Kalaschnikow an den Schultern.« Er saß mit einem Kieler Kollegen in einem Zivilauto auf dem Parkplatz vor der Hafenmeisterei. 
»Tja, ich fürchte, so einfach werden die uns das nicht machen«, sagte Enno. Er stand auf einem Zweimaster weiter links von Andis Bank und holte ein Tau ein, das er nach ein paar Sekunden auswarf, um es dann wieder einzuholen. Dazu trug er hohe Fischerhosen und ein blaues Hemd mit Kapitänsmütze.
»Enno, ist die ›Lütte Heike‹ schon in Sicht?«
»Nein, Boss. Noch nichts zu sehen.«
Andi grinste. _Boss_. Daran könnte sie sich gewöhnen. Das ließ sie beinahe den Frust vergessen, dass sie heute Dienst schieben musste. Sie hatte alle Heiligen vom Himmel geflucht, als Jontes Anruf sie um sieben aus dem Schlaf geklingelt hatte. Eigentlich sollte sie an diesem Wochenende dienstfrei haben, aber das konnte sie jetzt vergessen. Die dänischen Kollegen hatten einen Tipp herübergeschickt, dass heute früh ein Krabbenkutter nach Deutschland zurückfahren würde und mit ziemlicher Sicherheit fünfzig Kilo Heroin im Gepäck hatte. Eine Zahl, die das gesamte Kieler LKA in größte Verzückung versetzte. Ziel des Schmuggelkutters ›Lütte Heike‹ war der kleine, verträumte Hafen von Norderode. Im Landkreis florierte der Drogenschmuggel in den vergangenen Jahren mindestens so sehr wie der Tourismus. Die Drogenhändler hatten die verschlafene Gegend als weniger riskant ausgemacht als die berühmten großen Häfen an der Nordsee. 
»Da kommt sie«, sagte Cem und Andi hob den Blick zu den einfahrenden Kuttern.
Der Hauptkommissar war der Leiter einer Drogeneinheit mit Hauptsitz in Kiel, die für diesen Einsatz von Andis Gruppe verstärkt wurde. Er stand auf einem Boot weiter vorn, als strahlend weißer Freizeitkapitän verkleidet. Passte gut zu seinen vollen, schwarzen Haaren und dem dunklen Bartschatten.
»Welcher Steg?« Andi hob ihr Fernglas an die Augen und suchte zwischen den ein- und ausfahrenden Booten nach einem mit dem entsprechenden Namen an der Seite.
»Kann ich noch nicht sagen, sie ist zu weit weg«, sagte Cem.
»Wie siehts bei euch aus, Sören?«
»Unauffällig, Boss.«
Andi grinste wieder, sie konnte einfach nicht anders. Seit sie zur Oberkommissarin befördert worden war, redeten Buntspecht sie immer so an. Mit ›Buntspecht‹ verschmolz man geschmeidig die Namen ihrer Kollegen Sören Bundt und Enno Specht. Popelige Kommissare!
Sie schlang den letzten Bissen Fischbrötchen runter und schickte ein Dankgebet an Maite, die keine hundert Meter weiter, aus ihrem Anhänger ihre heilsbringenden Kreationen an eine gierige Menge verteilte.
»Steg zwölf. Das nenn’ ich Glück«, sagte Cem, dessen Boot genau dort festgemacht war. »Michi, Bjarne. Macht euch auf den Weg hierher.« Das waren seine Kollegen aus Kiel, die vor der Hafenmeisterei herumlungerten, damit sie beweglich waren.
»Enno, komm her«, sagte Andi zu ihrem ›Untergebenen‹, der immer noch das Ding mit dem Seil machte. Sie waren drei Stege entfernt und würden eingreifen, wenn jemand von der ›Lütten Heike‹ flüchten wollte.
Michi und Bjarne, beide in kurzen Hosen, Shirt und Mütze, gingen schnell an ihr vorbei.
»Langsam, Jungs«, zischte sie. »Kein Tourist hats hier eilig.«
Die beiden verringerten ihr Tempo.
Sie kamen alle gleichzeitig am Steg zwölf an. Andi und Enno blieben stehen. Die anderen gingen weiter. Hier hatten auf jeder Seite des Holzstegs fünf Boote Platz zum Anlegen. Die ›Lütte Heike‹ trieb langsam heran. Andi konnte den Mann sehen, der in dem Ruderhaus hinter dem großen Steuerrad stand. Zwei andere hielten sich an der Reling bereit für das Andocken. Der Steuermann brachte das Boot butterweich längsseits in die Nische zwischen zwei anderen Kuttern. Einer der beiden Männer sprang auf den Steg und vertäute das Schiff.
In dem Augenblick kamen Cem und seine Leute heran. Der Hauptkommissar hielt den erschrockenen jüngeren Mann auf dem Steg fest und Bjarne und Michi sprangen mit gezogenen Waffen an Bord der ›Heike‹.
Jetzt rannte Andi zusammen mit Enno den Steg entlang. An ihnen würde keiner vorbeikommen.

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