Die Tannentaler Tanten und die Sache mit dem Fastnachtsgemetzel

Kapitel 1

»Das Bad Killinger Fastnachtsgemetzel ist eine Delikatesse, die es in dieser Form nur an den närrischen Tagen gibt, meine Damen und Herren.«
Professor Doktor Werner Bäcker, DIE Koryphäe, wenn es um Tradition und Brauchtum in Süddeutschland geht, saß mit seinen Gästen am größten Tisch des Restaurants Fallblick.
Alle neun Zuhörer hatten fürchterlichen Hunger. Sie hatten schon den ganzen Tag vermieden, etwas Nahrhaftes zu essen. Einige hatten sogar seit dem Frühstück ganz auf feste Nahrung verzichtet. Das war offensichtlich ein Fehler gewesen, denn man konnte die Vertreter dieser Abteilung gut daran erkennen, dass ihr Blick nicht mehr ganz geradeaus ging. Man schaffte es in Bad Killingen nicht, sich am Schmotzigen Donnerstag in der Öffentlichkeit zu bewegen, ohne danach mindestens eine Handvoll Schnäpse im Magen zu haben. Und wenn der dann auch noch leer war …
Bürgermeister Siegmar Welte senior, seiner Stellung entsprechend neben dem Professor platziert, hickste leise. Er verriet sich damit als der letzteren und unvernünftigeren Gruppe zugehörig.
»Eigentlich unterscheidet sich das Fastnachtsgemetzel nicht allzu sehr von der traditionellen Metzgersuppe oder der Schlachtplatte«, dozierte Werner Bäcker. 
Er konnte gut dozieren, denn vor allem um die Fastnachtszeit hatte er viele Möglichkeiten, das zu üben. Jeden Sonntag saß er im Auftrag des dritten Programmes im Übertragungswagen des Senders und kommentierte die Umzüge der Narrentreffen, von denen seit Heilige-Drei-Könige an jedem Wochenende im Ländle eins stattfand. Sein weiblicher Sidekick, Tanja Bergwein, raste bei diesen Veranstaltungen selbst bei Minusgraden durch die Reihen der Narren und interviewte die weinselig winkenden Honoratioren, die von ihren Ortschaften auserkoren waren, ihre Zunft zu repräsentieren. Dabei versuchte sie mehr oder weniger erfolgreich, ihnen launige Kommentare zu entlocken.
»Es ist ein im Süden Deutschlands weitverbreitetes Gericht«, fuhr der Professor fort. »Und wurde früher meist nach dem Schlachten serviert. Was zu jener Zeit von mehreren Haushalten gemeinsam veranstaltet wurde.«
›Früher‹ war berufsbedingt eins von Bäckers meistgebrauchten Worten.
»Man könnte das Fastnachtsgemetzel ohne zu übertreiben als den Albtraum aller Vegetarier und Veganer bezeichnen.« Er lächelte gelehrt und seine Gäste versuchten das auch. 
Siegmar Welte hickste. Als Bürgermeister hatte er heute mehr als nur eine Handvoll Schnäpse probieren müssen.
Die illustre Gruppe aus Stadtverwaltern und Großgönnern der Bad Killinger Narrenzunft saß direkt am großen Panoramafenster, das am Tag einen majestätischen Blick über das Tannental bot. 
Das Restaurant Fallblick stand nahe dem Abhang, der in dieses Tal hinabführte. Es war nur schade, dass man hier den Killinger Fall nicht sehen konnte, einen Wasserfall mit einem großen Felsen davor. Dieser Steinkoloss verbarg das jetzt halbgefrorene Naturschauspiel so, dass man es vom Tal aus nicht sehen konnte. Und auch für die Gruppe um Professor Bäcker war der Fall zu weit links, um ihn zu sehen. Zu dieser Stunde, um acht Uhr abends, war die winterliche Dunkelheit aber sowieso schon zu weit fortgeschritten, um durch die Scheibe mehr erkennen zu können, als das eigene Spiegelbild.
Und das von Bürgermeister Welte, der hickste.
Endlich brachten die Kellner das traditionelle Fastnachtsgericht der Bad Killinger heran. Fünf Bedienstete trugen je zwei Teller mit der dampfenden Delikatesse.
Sobald das Gericht vor Welte stand, wollte der sich darauf stürzen, aber Bäcker legte die Hand auf seinen Arm. »Lassen Sie mich erst die Bestandteile dieser Köstlichkeit erläutern.«
Welte lächelte gezwungen und legte Messer und Gabel neben seinem Teller ab. Tatsächlich saß ein Gast in der Gruppe, der nicht aus Bad Killingen stammte und daher vielleicht nicht wissen könnte, was da vor ihm so verführerisch duftete. 
Es handelte sich dabei um Wulf Herberts, den Vorsitzenden der Vereinigung der Schwäbisch-Alemannischen Narrenzünfte. Herr über jahrhundertealte Traditionen und deren Bewahrung.
»Wie ich schon sagte, entstand das Fastnachtsgemetzel aus den typischen Zutaten einer einfachen Metzgersuppe«, sagte Professor Bäcker und zeigte mit einer Gabel auf eine prall gefüllte Wurst, die unter der durchsichtigen Haut rötlich schimmerte. »Hier haben wir die Blutwurst.« Die Gabel schwenkte zu einer ähnlich aussehenden Wurst in Grau. »Hier die Leberwurst, übrigens mein Favorit, und dort ist das Siedfleisch aus Tafelspitz.« Das flache, faserige Stück Fleisch lag gleich daneben. »Dazu das Sauerkraut, das Kartoffelpüree und, auch eine Besonderheit, der passierte Wirsing. Das alles schwimmt in einer kräftigen Nudelsuppe.« 
Immer wieder zuckte eine nicht fest genug im Zaum gehaltene Hand zu einem Besteck, wurde aber sofort wieder erschrocken vom Besitzer zurückgezogen.
»Es ist diese Nudelsuppe und der Wirsing, die das Fastnachtsgemetzel von der Schlachtplatte unterscheidet und sie eher im Bereich der Metzgersuppe ansiedelt.«
Zustimmendes Magenrumpeln.
»Nun gibt es zum Verzehr dieser Köstlichkeit mehrere Ansätze.« Bäcker zeigte kein Erbarmen. Wahrscheinlich hatte er heute weder Schnaps getrunken noch auf diesen Abend hin gefastet. »So gibt es die Fraktion, die als Erstes den Inhalt der beiden Würste aus der Haut drückt, den Tafelspitz in mundgerechte Stücke schneidet und dann alles im Teller verrührt, um den so erzeugten Brei nur mit einem Löffel zu essen.« Bäcker sah in die ausgehungerten Gesichter. »Oder man arbeitet mit Messer und Gabel, verzehrt je nach Laune die Zutaten einzeln und löffelt die Suppe ganz zum Schluss.« 
Er hob die Hand und drei Gäste missverstanden das als Aufforderung zum Loslegen. Aber sie zuckten wieder von dem Besteck zurück, als Bäcker weitersprach. »Natürlich gibt es noch mehr Möglichkeiten zum Verzehr. Und wie so oft bei solchen traditionellen Angelegenheiten, proklamiert jede Fraktion für sich, die einzig wahre Lösung zu kennen.«
Der Professor lächelte.
Die Gäste lächelten.
Welte hickste.
»So«, sagte Bäcker und Gesichter hellten sich auf. »Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«
Es entstanden zwar keine Kondensstreifen an den Händen der Tischgäste, aber die Geschwindigkeit, mit der nun das Besteck gepackt und geschnippelt und gelöffelt wurde, hätte nicht viel höher sein dürfen.
Bäcker selbst vollführte elegante Schnitte an den Würsten und presste gekonnt den roten und grauen Inhalt aus der Haut. Er zog, mehr, als dass er schnitt, den Tafelspitz auseinander und verrührte dann alles zu einer mehrfarbigen Masse.
Dann legte er Messer und Gabel zur Seite und nahm den Löffel hoch. 
Bevor er diesen in das Gemetzel eintauchte, beugte er sich mit der Nase darüber und sog tief den Duft ein. »Ah, köstlich.«
Als Bürgermeister Welte schon die Hälfte seines Tellers geleert hatte, führte Bäcker den ersten Löffel zum Mund. Genießerisch schloss er die Lippen darum, zog ihn wieder ab, kaute und blickte verträumt aus dem Panoramafenster. Es klapperte, klirrte und schmatzte am Tisch und alle waren es froh. 
Denn so schmeckte die uralte, traditionsreiche Bad Killinger Fastnacht. Das Juwel der Schwäbisch-Allemanischen Narrenzünfte und baldiges Weltkulturerbe, wenn die Anstrengungen Bäckers und des Bad Killinger Kulturausschusses fruchteten.
Bevor der Professor sich den nächsten Löffel zuführte, verengten sich seine Augen kurz, als wäre ihm ein feinsinniger Geistesblitz eingefallen. 
Die Gäste sahen ihn erwartungsvoll an. 
Aber statt ein cleveres Bonmot von sich zu geben, fiel er vornüber und landete mit dem Gesicht in seinem Teller. Die Gemetzelmasse spritzte zu allen Seiten. Sie bekleckerte Bürgermeister Welte und zwei weitere Gäste, von denen eine unglücklicherweise Margot Fischer in ihrem besten Abendkleid war. Die kreischte sofort erschrocken auf und dann starrten alle auf den Hinterkopf des Professors.
An den Seiten seines untergetauchten Gesichts blubberte das Gemetzel noch kurz auf, dann bewegte sich der bunte Brei nicht mehr.
Und Bürgermeister Siegmar Welte senior hickste.

 

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