Andi stieg aus ihrem roten 67er-Mercedes-Benz 250 SL Cabrio und da war wieder dieses Quietschen an der Tür.
Musste sie dringend nachsehen. Das alte Mädel hatte immer mal ein paar Beschwerden, aber bis jetzt war es nichts, was ein Tröpfchen Öl oder ein angenehmer Nachmittag in der eigenen Garage nicht hätte heilen können.
Sie ging über den Parkplatz und vernahm die Pfiffe der Männer, die eins der zwei Feuerwehrautos wuschen und die Oberteile ihrer Uniformen abgenommen hatten. Hübsche Burschen allesamt. Es war zwar früh am Tag, aber die Sonne strahlte mit viel Kraft vom wolkenlosen Himmel herab. Die Hosenträger würden todsicher Bräunungsstreifen auf der nackten Haut hinterlassen. Andi drehte sich, ohne anzuhalten zu den Jungs und schenkte ihnen ein Lächeln und zwei Mittelfinger.
Mehr Pfiffe und gutmütiges Gelächter.
Beide Garagen des Spritzenhauses waren geöffnet. Aus der rechten blitzte das Rot und Chrom des zweiten Feuerwehrautos heraus. Andi konnte keinen Schmutz daran entdecken, aber die Jungs würden es trotzdem gleich als Nächstes putzen. Wenn heute nicht zu viel anstand, ergab sich vielleicht später die Gelegenheit, ihnen von oben bei ihren Schaum- und Wasserspielchen ein wenig zuzusehen.
Sie ging zum seitlichen Eingang des denkmalgeschützten, zweistöckigen Gebäudes. Schon vor zweihundert Jahren war die Feuerwehr hier ausgerückt. Damals noch mit bimmelnden Pferdewagen. Der altehrwürdige Klinker-Bau thronte einsam mitten in dem unbebauten Platz, nicht weit entfernt von Norderodes Altstadt mit dem malerischen Binnenhafen voller bunter Fischkutter. Andi konnte hinter den Häusern die Möwen hören, die hungrig über den einlaufenden Fischerbooten segelten und begeistert kreischten.
Sie stieß die verglaste Eingangstür auf und blieb in der engen Schleuse stehen.
»Moin Andi. Und, wie isses?« Polizeiobermeister Tronje strahlte sie hinter seiner Glasscheibe rechts von ihr an.
»Läuft.« Sie schenkte auch ihm ein Lächeln. Dieses Mal mit hochgereckten Daumen.
Tronje war ein netter, gemütlicher Polizist, der es ohne Aufsehen bis fast zur Rente geschafft hatte. Vielen Verbrechern konnte er während seiner langen Karriere nicht nachgelaufen sein, denn ein beeindruckender Bauch wölbte sich unter seiner schwarzen Uniform. Man hätte ihm keinen größeren Gefallen tun können, als ihn für die letzten Jahre seiner Dienstzeit auf den Posten des Wachhabenden zu setzen. Entsprechend motiviert ging der Mann die Sache an.
Der Türöffner summte und Andi ging weiter zu einer schmalen Holztreppe. Rechts davon führte der Gang zur Polizeiwache. Sie sprintete die hölzernen Stufen hoch, zum oberen Stock des Spritzenhauses. Sie sprintete immer auf dieser Treppe, egal, ob rauf oder runter und es knarrte jedes Mal hölzern gichtig. Sie hielt sich rechts und öffnete die Tür zum Büro des Kommissariats Norderode.
Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.
Keine Kollegen, die sich über die zusammengestellten Schreibtische unterhielten oder ins Handy sprachen. Kein Jonte in dem kleinen Glaskasten, der den Arbeitsplatz des Kommissariatsleiters von der Spreu seiner untergebenen Beamten trennte.
Die Tür fiel hinter Andi zu. In der ungewohnten Stille ließ der Knall sie erschrocken aufhüpfen.
»Leute? Moin?«
Kein Laut. Der vierte Arbeitsplatz, den ihr früherer Kollege und Vorgesetzter beansprucht hatte und der ihrem gegenüber lag, war ohnehin verwaist. Oberkommissar Behrends hatte sich vor zwei Monaten mit Anfang fünfzig in die Privatwirtschaft verdrückt und würde dort nun sein frauenfeindliches Gift versprühen.
Andi weinte ihm keine Träne nach.
Sie blickte zu der Holzwand, wo hinter großen Fenstern der Besprechungsraum lag. Weder vor der Pinnwand noch auf den Stuhlreihen davor war jemand.
Was war hier los?
Sie sah auf die Uhr.
7.36 Uhr.
Der Dienst hatte seit sechs Minuten begonnen, und Buntspecht waren immer schon vorher da. Der Chef sowieso.
Andi ging zu ihrem Tisch und dabei fiel ihr das laute Klacken ihrer Schuhe auf dem abgeschossenen Linoleumboden auf. Sie zog die kurze Lederjacke aus und hängte sie über den Bürostuhl. Ohne Jacke in einem Cabrio zu fahren, war nicht sehr angenehm. Nicht bei Andis Fahrweise.
Sie warf einen prüfenden Blick auf ihren ausgeschalteten Monitor. Eine Frau Mitte dreißig mit roten Locken, weißer Bluse mit kurzen Ärmeln und einem Holster am Gürtel der Jeans blickte von der schwarzen, spiegelnden Oberfläche zurück.
Sie durchquerte das Büro und öffnete die Tür, die auf einen engen, dunklen Korridor führte. Hier ging es zu den Toiletten für Mädels und Jungs.
Sie horchte am Herrenklo. Da war nichts zu hören. Buntspecht waren sich sehr nahe, aber gemeinsame Morgenverdauung wäre ein neues Level ihrer Freundschaft. Sie spähte trotzdem hinein. Für Männer war das Klo der letzte Rückzugsort, wo sie sich wie auf freier Wildbahn fühlen und aufführen konnten.
»Hallo? Jemand da?«
Aus den drei Kabinen kam kein Ton. Nicht mal ein erschrockenes Husten oder ein genervtes Seufzen.
Buchstäblich kein Pups.
Nur vollständigkeitshalber lugte sie ins Damenklo, aber da war sowieso niemand drin. Andi war die einzige Beamtin und hatte somit eine ganze Toilette für sich, außer wenn ein weiblicher Gast mal musste.
Zurück im Großraumbüro ließ sie den Blick über die leeren Plätze schweifen. Links von ihr waren die beiden Türen für den Vernehmungsraum und das kleine Zimmer mit dem Fenster, durch das man in den Vernehmungsraum hineinsehen konnte. Mittlerweile wusste jeder noch so kleine Hobbygangster, was es mit dem Spiegel auf sich hatte. Aber es war immer wieder verblüffend, wie sich trotzdem viele von ihnen völlig unbeobachtet verhielten, wenn man sie da drinnen kurz allein ließ.
Andi ging zum Vernehmungsraum, stoppte aber vor der Tür. Sie wollte nicht in ein Gespräch mit einem Verdächtigen platzen, obwohl das um diese Zeit ziemlich ungewöhnlich wäre. Deshalb öffnete Andi sie langsam und vorsichtig. Ein seltsamer Geruch drang aus dem Spalt.
War das Kordit?
Andis Nackenhaare stellten sich auf und sie bekam eine Gänsehaut. Es roch eindeutig nach einer abgeschossenen Waffe. Die Tür war nur einen Spalt geöffnet, aber sie sah jetzt, wie ein Flackern die Dunkelheit in diesem Zimmer durchschnitt. Und da war ein seltsames Knistern.
Andi atmete tief durch. Sie ließ mit dem Daumen den Druckknopf der Lasche aufschnappen, die ihre Waffe im Gürtelholster hielt. Die andere Hand lag an der Türklinke.
Da war ein neues Geräusch hinter diesem Knistern.
Ein Kichern?
Jetzt ist genug, dachte Andi und zog die Tür mit Schwung auf. Die Hand immer noch an der ungezogenen Waffe.
»Herzlichen Glückwunsch, Frau Oberkommissarin!«
Andi riss in genau dem Augenblick die Hand von ihrer Pistole, als das Licht in dem Vernehmungsraum anging.
Direkt vor ihr grinste sie ihr Vorgesetzter, Jonte Petri, an. Er hielt ein Blatt Papier so in der Hand, dass dessen unbeschriebene Rückseite zu Andi gewandt war. Die fasste ihre beiden anderen Kollegen, Sören Bundt und Enno Specht, ins Auge, weil die genauso lächelten und in jeder Hand ein Sektglas hielten.
Ein Volles.
Morgens um halb acht.
Hinter den drei um die Wette grinsenden Männern stieg eine dünne Qualmwolke auf, und die war eindeutig der Grund für den seltsamen Korditgeruch. Das helle Flackern war nicht mehr so gut zu sehen, weil das Licht ja angeschaltet war. Aber auch dieses Rätsel löste sich auf, als Jonte und seine Untergebenen sich zur Seite drehten und den Blick auf eine Torte mit zwei Wunderkerzen darauf freigab.
Nach dem ersten Schreck und der darauffolgenden Erleichterung, dass sie einem Massaker im Kommissariat Norderode entgangen war, fielen Andi zwei Dinge ein:
1. Sie hatte heute nicht Geburtstag und
2. Die hatten sie mit dem falschen Dienstgrad angeredet
Jonte ging einen Schritt auf Andi zu, weil die immer noch wie angewurzelt in der Tür stand. Er streckte die Hand aus und sie nahm sie automatisch. Der Endfünfziger hatte einen kräftigen Händedruck und er überragte Andis hundertzweiundsiebzig Zentimeter um einen ganzen Kopf. Der war kahl und gab seiner hageren Gestalt etwas Totengräberähnliches, ganz besonders, wenn er einen schwarzen Anzug tragen würde. Man sah den Mann aber immer nur in weitem Karohemd und alten schlabberigen Jeans.
»Tja, also, äh«, begann ihr Chef wortgewandt wie immer. »Das hier ist für dich.«
Er drehte das Blatt in seiner Hand, sodass Andi einen Blick darauf werfen konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie Buntspecht herankommen und hörte das Zischen der Bläschen in den Sektgläsern, weil plötzlich gespannte Stille herrschte.
Der Schrieb war voll mit Wappen. Das vom Landkreis Norderode, das von Schleswig-Holstein, und der Bundesadler war auch drauf. Am unteren Rand prangten ein paar geschwungene, aber unleserliche Unterschriften und Andi las die gedruckten Namen des Innensenators und des Polizeipräsidenten unter dem Gekritzel.
Und etwa in der Mitte sah sie ihren eigenen. Den Vollen, den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Andi ließ den Nacken kreisen.
Dann entdeckte sie das Wort ›Ernennungsurkunde‹, weil das fett und groß gedruckt war, und darunter das Wort ›Oberkommissarin‹, weil das auch etwas größer war als der restliche Text.
Sie fühlte kaum die Hände, die ihr auf die Schultern klopften. Dann schob sich ein Sektglas zwischen ihr Gesicht und die Urkunde. Auch danach griff Andi automatisch.
»Ich war ziemlich überrascht, als ich die Nachricht bekommen habe, dass meine Empfehlung im Präsidium angenommen wurde.« Jonte Petri lächelte immer noch wie zehn bekiffte Rennpferde.
»So schnell?«, fragte Andi. Sie nahm mit der freien Hand die Urkunde an sich.
»Das hat mich am meisten überrascht«, sagte ihr Chef. Er hielt auch ein Sektglas in der Hand. Sören hatte es ihm gegeben. Weil jetzt alle mit einem Getränk bewaffnet waren, hob der Kommissariatsleiter seins und die anderen machten es ihm nach. »Also, dann nochmal herzlichen Glückwunsch zur Beförderung, Andi.«
Buntspecht wiederholten die Glückwünsche, dann tranken alle vier. Andi stand nicht so sehr auf Alkohol am Morgen und war nicht wenig verwundert, dass Jonte das überhaupt zuließ.
Der setzte schnell sein Glas ab, nachdem er daran genippt hatte. Er fixierte Enno mit buschigen, zusammengezogenen Augenbrauen. »Sag mal. Ist der wirklich alkoholfrei?«
»Isser, Chef. Keine fünf Euro bei Aldi.« Zur Bestätigung leerte Specht sein Glas auf einen Zug.
Sein Kollege, Fußballkumpel und Hetero-Seelenverwandter Bundt tat es ihm sofort nach. Dann ging er zum Tisch und holte die halbleere Flasche, um nachzuschenken. Andi war verblüfft, wie ähnlich dieses Getränk dem echten Zeug schmeckte. Inklusive Blubbern und einem kleinen bisschen Leichtigkeit im Gehirn.
Sören warf einen Blick auf die Flasche in seiner Hand, während er zu den anderen zurückging. Dann stoppte er auf halbem Weg. »Äh, Enno? Wenn der bleifrei ist, warum steht dann hier ›vierzehn Volumenprozent‹?«
Jonte hatte gerade wieder einen kräftigen Schluck genommen und sah nun aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er ihn ausspucken oder doch herunterschlucken sollte.
»Quatsch«, sagte Enno und ging auf seinen Kumpel zu. Er riss ihm die Flasche aus der Hand und blickte aufs Etikett. Dann sah er verlegen zu den anderen. »Auweia. Ich hab wohl die Flaschen verwechselt, als ich die aus dem Kühlschrank nahm.«
Es gab immer eine Flasche richtigen Sekt hier, weil man ja auch mal was zu feiern hatte. Aber das tat man sonst nach Dienstschluss und nicht zum Dienstantritt.
Andi beobachtete Jontes riesige, lederne, mit blauen Adern durchzogene Hand, wie sie ihr das Glas wegzog. »Her damit, Deern.«
Sie war nicht böse darüber. Es war wirklich zu früh für Sekt.
Ihr Chef ging mit großen Schritten an Buntspecht vorbei und stellte die halbvollen Gläser auf den Tisch. Dann bedachte er Sören mit einem missmutigen Blick, während er ihm die Flasche aus der Hand nahm. »Ich hoffe, dass die Torte wenigstens keine Umdrehungen hat.«
»Nein, nein«, sagte der schnell. »Ist eine ganz normale Friesentorte.«
Andi grinste. »Vom Bäcker Hansen?«
Sören zog überlegen eine Augenbraue hoch. »Andi, ich bitte dich.«
Selbstverständlich war es eine Hansentorte. Die Kollegen hatten sich wirklich ins Zeug gelegt. Seitdem die Norderoder Traditionsbäckerei vor ungefähr sechs Jahren eine neue Konditorin eingestellt hatte, rissen sich die Leute um ihre leckeren Torten. Ennos Fauxpas war sofort vergessen, als die vier den ersten Bissen des Gebäcks in den Mund schoben. Das Pflaumenmus schmeckte wie frisch vom sonnengeküssten Baum und der Blätterteig knackte leicht zwischen den Zähnen.
»Rede, Rede«, rief Enno, ohne geschluckt zu haben. Sören stimmte ein.
Jonte lächelte Andi an. Etwas Sahne klebte an seinem Mundwinkel. Sein ganzes Ledergesicht war mit kleinen Falten übersät. Und es sah immer so aus, als wäre er nicht richtig rasiert. Die meisten Falten hatte er um die Augen.
Lachfältchen.
»Na ja«, fing Andi an. »Ich bin ja jetzt kein popeliger Kommissar mehr.«
»Höööö«, machten Buntspecht, beides popelige Kommissare, gespielt empört.
»Und weil ich ja jetzt weisungsbefugt gegenüber euch zwei Hohlköppen bin, verfüge ich, dass wir alle«, sie neigte sich zu Jonte, »also auch du, Chef, nach Dienstschluss einen Beförderungsumtrunk bei Feuerwasser-Fiete einnehmen.«
Sunshine würde damit zwar später zu ihrem Strandhappening kommen, oder was immer das war, aber das dürft kein Problem sein. Allzu lange sollte das Feierabendbier nicht dauern, und Andi würde die Kinder ins Bett bringen können.
»Ich habe noch eine Neuigkeit für euch«, sagte Jonte, nachdem der Jubel verklungen war. »Der neue Kollege für unseren verabschiedeten Ole Behrends tritt heute seinen Dienst bei uns an. Ich hoffe, wir können ihn auch so warm willkommen heißen wie unsere Andi.«
Gut, der Vergleich hinkte, der war ja nicht befördert worden, aber sofort fielen die Blicke von Buntspecht und Andi auf ihre Armbanduhren.
»Dann kommt der an seinem ersten Tag zu spät?«, fragte sie und sprach damit aus, was die anderen dachten.
Jonte winkte ab. »Wir wollen da jetzt mal nicht so christlich sein. Der Mann muss sich vielleicht erst mal einleben.«
Das gesamte Kommissariat Norderode blickte seinen Chef irritiert an, denn nichts ärgerte Jonte Petri mehr als Unpünktlichkeit. Andi wollte gerade nachhaken, da flog die Tür zum Vernehmungsraum auf. Die vier wandten sich erschrocken um.
Da stand der Wachhabende Tronje, komplett mit Bauch, und atmete schwer. Er war offensichtlich die ganze Treppe vom Erdgeschoss heraufgerannt. Sein dickes Gesicht war beunruhigend gerötet.
»Sagt mal, warum geht keiner von euch ans Telefon?« Er hielt sich keuchend am Türrahmen fest. Er wollte schon weiterreden, da fiel sein Blick auf die Friesentorte. »Boah, ist die vom Hansen?« Dann sah er in die Runde. »Und gibt’s was zu feiern?«
»Ja und ja«, sagte Jonte. »Und warum bist du jetzt hier hochgelaufen?«
»Ach so, ja.« Tronje riss mit einiger Anstrengung den Blick vom Vernehmungstisch.
»Da liegt eine Leiche am Deich bei Westerrand.«
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